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Der russische Pianist Grigory Sokolov, immerhin Mitglied im illustren Kreis der Tschaikowsky-Preisträger, gehört nicht zu den glitzernden Tastenlöwen im Musik- business. Auch nicht zu den Plattenstars oder zu den Spezialisten, die in ihrem ur- eigenen Repertoire Perfektion suchen und Befriedigung finden. Sokolov lässt sich nicht einordnen. Seine wichtigste Richtschnur ist allein er selber. |
M&T: Grigory Sokolov, Sie gelten als Ausnahme unter den grossen Konzertpianisten unserer Zeit, und zwar deshalb, weil Sie mit grosser Ernsthaftigkeit und auch Ehrlichkeit Ihren Beruf ausüben. Sind das Ihre Charakterzüge? | |
G.S.: Erstens muss ich dazu sagen, dass Musik für mich kein Beruf ist, sondern ein Aspekt des Lebens. Das sagt eigentlich schon genug. Musik ist für mich so natürlich wie Atmen, was ja durch ein unglaublich komplexes System von Nerven, Muskeln bewirkt wird. Wissen Sie, wie Sie es machen? Nein. Aber Sie tun es. Genauso ist es mit der Musik. Das ist Leben. | |
"Der ganze Plattenmarkt ist eine grosse Fabrik" | |
M&T: Das würde ja bedeuten, dass jeder Mensch Musik machen könnte. Offenbar gibt es nun aber solche, die es besser können. | |
G.S.: Nicht für alle Menschen ist Musik eine Seite des Lebens. Für manche ist es wirklich ein Beruf. Um zu leben, nicht das Leben selbst. Die innere Welt ist das Wichtigste in der Musik, überhaupt in der Kunst. | |
M&T: Was Kritiker und Zuhörer bei Ihrem Klavierspiel oft bewundern, ist die Gleichzeitigkeit von Emotion und Intellekt. Wie bringen Sie diese doch gegensätzlichen Pole zusammen? | |
G.S.: Ich glaube, Sie gehen von falschen Annahmen aus, wenn Sie denken, dass das alles geplant ist. Vieles geschieht auf einer spontanen Ebene. Da ist auf der einen Seite natürlich der Prozess eines Erarbeitens, auf der anderen Seite aber Instinkt, Musikalität oder wie immer man dem sagen will. Aber ich glaube, es ist falsch, solche Dinge trennen zu wollen. Instinkt, Spontaneität und Improvisation sind für mich einfach die höhere Stufe dieser Arbeit. | |
M&T: Improvisieren Sie denn auch? | |
G.S.: Wenn Sie darunter verstehen, dass ich öffentlich zu einem Thema spiele, dann nein. Aber was ich meine, ist, jede Interpretation hat immer beide Seiten: Sie wissen, was passiert, aber ganz genau wissen Sie es eben doch nicht. Improvisation allein ist deshalb für mich ebenfalls unbefriedigend, weil das Fundament, das Gebäude fehlt. Wenn alles zufällig ist, ist das zuwenig. Diese Improvisation, die ich meine, ist eine sehr hohe Stufe der Erarbeitung, eine sehr bewusste Arbeit. Es hat nichts mit Anarchie zu tun. | |
M&T: Die Musik Bachs gilt als eine Ihrer Hauptinteressen. Man hat Ihr Bach-Spiel oft mit Glenn Gould verglichen. Was denken Sie über diesen Vergleich? | |
G.S.: Glenn Gould gehört zu meinen absoluten Lieblingspianisten. Aber ich glaube, man sollte die verschiedenen Interpreten nicht auf diese Weise vergleichen. Interessant ist nicht, so zu spielen wie er, interessant ist das Eigenständige. Ich glaube, es ist besser, wenn jeder Pianist, jeder Musiker, jeder Künstler seine eigene Persönlichkeit in seine Kunst einbringt. Wirklich gute Kunst ist durch die Persönlichkeit des Künstlers unterscheidbar. | |
M&T: Heisst das, dass Sie sich von anderen Interpretationen nicht beeinflussen lassen? Oder gibt es da einen gewissen Spielraum, dass Sie zum Beispiel einzelne Ideen, Details oder Ansätze in Ihr Spiel übernehmen? | |
G.S.: Ich habe ein gutes Immunsystem! Wahrscheinlich lässt es sich nicht vermeiden, beeinflusst zu werden. Ein Student sollte deshalb zuerst von sich aus ein Werk erarbeiten und erst dann andere Interpretationen anhören. Das ist zugegebenermassen ein wenig schwierig, weil wir ja eben nicht auf der Insel leben. Aber ich denke, nur so kann man die eigene Persönlichkeit voll in die Musik einbringen. | |
M&T: Wie war das mit Ihrer Immunität? | |
G.S.: Es ist wirklich so: Ich kann eine Interpretation anhören und sie auch schön finden, aber dennoch etwas ganz anderes machen. | |
M&T: Im Vergleich zu Ihrem grossen Renommée als Konzertpianist sind Sie auf dem Plattenmarkt untervertreten. Woran liegt das? | |
G.S.: Ehrlich gesagt, habe ich nie gerne Schallplatten
gemacht. Früher war es ja so, dass eine Aufnahme als Dokument eines
grossen Kunst-Erlebnisses gelten konnte, was interessant war. Heute
dagegen ist der ganze Plattenmarkt eine grosse Fabrik. Es gibt zwei Wege: Entweder, Sie machen Mitschnitte, in denen Sie nichts, oder nur ganz wenig, verändern. Oder Sie schneiden einfach die technisch gelungenen Passagen zusammen: Da ist alles tot. Solche Schnitte sind wie eine Operation: Man sollte sie nur dann machen, wenn man sich in wirklicher Lebensgefahr befindet! Es ist ja interessant: Die wirklich guten Künstler sind besser im Konzert als auf Schallplatte. Auf dem mittleren Niveau ist es genau umgekehrt: Ihre Schallplatten sind gut, aber im Konzert spielen sie enttäuschend. | |
M&T: Warum ist das so? | |
G.S.: Weil keine Persönlichkeit dahintersteckt. So geht
einer Aufnahme durch die Schnitte auch gar nichts verloren. Mit dieser
Schnitttechnik können Sie alles ganz anständig auf die CD bringen. Aber
vergleichen Sie solche sterilen Aufnahmen einmal mit den Platten etwa von
Schnabel: Da sind alle falschen Noten drauf, aber was für eine Atmosphäre!
Es gibt nichts besseres. Ich bin überzeugt davon, dass die Krise, unter der momentan der ganze Schallplattenbereich leidet, eine logische Folge genau dieser kosmetischen Sterilität ist. Wie lange kann man das genau Gleiche immer wieder aufnehmen? Einmal Beethovens fünf Konzerte, zweimal Beethovens fünf Konzerte, ein drittes Mal genau gleich. Irgendwann kommt die Krise. | |
M&T: Ganz abseits stehen Sie ja auch nicht. Wie fühlen Sie sich denn dabei, nach dem, was Sie gerade gesagt haben? | |
G.S.: Ich nehme nur live auf. Wenn irgendwo etwas passiert, von dem man findet, man sollte es verbessern, oder wenn die Aufnahmetechnik versagt - auch das kommt vor, bei meinen Schubert-Sonaten fehlten zum Beispiel plötzlich zwei Takte auf dem Band - dann stürzt mich das in ein riesiges Dilemma: Wenn ich die Stelle dreimal spiele, gibt es drei verschiedene Tempi, drei verschiedene Bewegungen, drei Dynamiken. Deshalb bin überzeugt davon, dass wir, sobald ein Künstler reif für eine Aufnahme ist, diese Aufnahme mit allem, was passiert ist, mit allen Geräuschen mit Husten, Räuspern und mit allen Fehlern stehenlassen sollten. | |
"Wenn Sie wissen, warum Sie etwas lieben, dann lieben Sie es nicht mehr!" | |
M&T: Heute ist es ja oft so, dass junge Musiker über die Schallplatte lanciert werden und erst danach im Konzertsaal auftauchen. Bei Ihnen war es ganz umgekehrt. | |
G.S.: Die Platten haben mir für meine Konzerttätigkeit eigentlich nie geholfen. Es war im sozialistischen Russland vollkommen klar, dass erst ein Künstler, der im Konzert Erfolg hatte, Platten aufnehmen konnte. Als ich Ende der 80er Jahre viel im Westen spielte, gab es im Westen überhaupt keine Platten von mir. | |
M&T: Wie haben Sie diese Wende erlebt, als der Eiserne Vorhang fiel und Sie im Westen nach Belieben Konzerte geben konnten? | |
G.S.: Es war natürlich zuvor sehr schwierig, eine Bewilligung für eine Westreise zu erhalten. Aber jetzt ist die Situation gewissermassen umgekehrt: Ich kann zwar von Russland weggehen, wie ich will, aber wir brauchen für jedes einzelne Land, wo wir hinreisen wollen, ein Visum. Und das ist sehr kompliziert. In einigen Ländern dauert es über zwei Monate. | |
M&T: Kamen Sie nie in Versuchung, wie viele Ihrer Kollegen in ein westliches Land umzuziehen? | |
G.S.: Ich glaube, es ist natürlich, wenn ein Mensch dort lebt, wo er geboren ist, wo er seine Freunde und Familie hat. Dass man aus seiner Heimat wegzieht, hat doch meistens einen wie auch immer gearteten tragischen Hintergrund. Die Welt ist so klein, das Reisen ist ja bis auf die Staatsgrenzen, die immer undurchdringlicher werden, kein Problem mehr. | |
M&T: Was bedeutet Ihnen denn Ihre Heimatstadt St. Petersburg? | |
G.S:.: Es ist meine Heimatstadt. Das sagt alles. Das bedeutet nicht, dass man immer dort bleiben muss, dass alles andere schlecht ist. Der Mensch lebt auf der Erde, und irgendwo hat er ein Haus. Am meisten bin ich im Flugzeug und im Hotel. Aber mein Haus ist in St. Petersburg. | |
M&T: Sie haben als 16jähriger den Tschaikowsky-Preis gewonnen. Was hat das für Sie und Ihre Karriere bedeutet? | |
G.S.: Erstens war es für mich eine sehr grosse Überraschung, zweitens war es der wichtigste Wendepunkt in meinem Leben als Pianist. Davor konnte ich nur wenige Konzerte geben, denn man brauchte eine Einladung dazu. Danach begann mein Konzertleben erst eigentlich. | |
M&T: Was wäre sonst aus Ihnen geworden? | |
G.S.: Ohne Wettbewerb konnte man damals als Musiker nicht Fuss fassen im Konzertleben. Ich wollte immer Musiker werden. Aber zuerst träumte ich vom Dirigenten-Dasein. Als Junge hatte ich zu Hause ein Podium und einen Taktstock und übte vor dem Spiegel nach den Klängen von Schallplatten. Eine Musiklehrerin empfahl meinen Eltern, mich erst einmal Klavier lernen zu lassen. Da war ich fünf Jahre alt, und von da an wollte ich Konzertpianist werden. | |
M&T: Wie sind Sie danach in die Musikwelt hineingewachsen? Mit zwölf gaben Sie Ihr erstes öffentliches Konzert. | |
G.S.: Mit zwölf war mein erster Solo-Klavierabend. Aber ich bin schon davor in den öffentlichen Konzerten an der Fachhochschule aufgetreten. | |
M&T: Als man Sie fragte, wer Ihre Lieblingskomponisten seien, zählten Sie eine ganze Liste auf von Machaut bis Puccini und Schönberg. | |
G.S.: Das hat sich nicht geändert. | |
M&T: Gibt es auch Komponisten, die Sie gar nicht mögen? | |
G.S.: Sagen wir, es sind nicht meine Lieblingskomponisten. Ich habe fast überhaupt kein Verhältnis zu Liszt, den habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gespielt. | |
M&T: Liegt das an einer gewissen Äusserlichkeit, die im Klavierwerk von Liszt vorhanden ist? | |
G.S.: Schwer zu sagen. Wissen Sie, wenn Sie wissen, warum Sie etwas lieben, dann lieben Sie es nicht mehr. Und umgekehrt. | |
M&T: Sie spielen nicht so viel Mozart. Oder täuscht dieser Eindruck? | |
G.S.: Genauso kann man sagen, dass ich nicht viel Debussy spiele. Man kann nicht alles gleich gut machen. Ich spiele einiges von Mozart, auch Konzerte, aber nicht soviel. Das heisst nicht, dass ich diese Musik nicht auch lieben würde. Machaut und Puccini spiele ich ja auch nicht! | |
"Wirklich gute Kunst ist unterscheidbar" | |
M&T: In Ihrem kommenden Zürcher Konzert spielen Sie Rameau. Und zwar auf dem modernen Konzertflügel. Da drängt sich die Frage auf, inwiefern Sie sich von den Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis beeinflussen lassen, oder eben nicht? | |
G.S.: Es ist ohnehin nicht möglich, die komplette historische Wahrheit wieder herzustellen. Die Menschen sind völlig verschieden, haben völlig andere Hör- und Lebensgewohnheiten. Dazu kommt: Reine Museumsmusik wäre tot. Alle Musiker, die dieser historischen Richtung angehören, müssen auch interpretieren, und jede Interpretation ist zwangsläufig modern. Niemand kann denken und fühlen wie ein Mensch des 18. Jahrhunderts. Auch Musik, die erst gestern geschrieben wurde, ist heute tot, wenn sie nicht interpretiert wird. | |
M&T: Und die Frage nach dem passenden Instrument? | |
G.S.: Viele Komponisten, wie zum Beispiel Bach, hatten ein universelles Verständnis für das Instrument. Jedes Klavierkonzert von Bach existiert als Fassung für andere Instrumente. Oder die Kunst der Fuge, für welches Instrument ist denn das komponiert? Für Orgel? Cembalo? Ensemble? Es ist einfach Musik! Wenn Sie genau die klanglichen Möglichkeiten des Cembalos haben wollen, dann müssen Sie Cembalo spielen. Wenn Sie dabei allerdings überhaupt keine Vorstellung von der Klangwelt der damaligen Zeit haben, dann ist das Ergebnis auch nicht interessant. Dasselbe gilt für Beethoven oder Chopin. Der moderne Steinway hat ja mit Chopins Instrument gar nichts zu tun. Die heutigen Pianisten könnten bloss die Klaviermusik der letzten 20 Jahre spielen, wenn man so konsequent wäre. | |
M&T: Dennoch nochmals die Frage: Gibt es auch Dinge an der historischen Aufführungspraxis, von denen Sie sich beeinflussen lassen? | |
G.S.: Das ist alles sehr interessant. Aber wissen Sie, diese Atmosphäre der damaligen Zeit ist bereits in der Musik. Natürlich, Sie müssen wissen, was Sie wissen können, und je mehr Sie wissen, desto besser verstehen Sie. Aber der Kern der Musik, den verstehen Sie auf einer anderen Ebene. Oder gar nicht. Die Sprache der Musik ist universell. | |
Grigory Sokolov spielt am 11. Oktober um 19.30 Uhr in der Zürcher Tonhalle. Programm: Rameau: Suite in G-Dur aus «Nouvelles Suites», Beethoven: Sonate Nr. 16 G-Dur, op. 31/1, Brahms: Sonate C-Dur, op.1. Karten: Jürg Hochuli Konzertsekretariat, 052/728 89 12 (Tel. & Fax). | |
SOKOLOV: Die
Diskographie Bach: Die Kunst der Fuge. Opus 111. OPS 52-9116/17 Beethoven: Klaviersonaten Nr. 4 & 28, Rondos op. 51, Alla Ingharese op. 129. Opus 111, OPS 30-63 Beethoven: Diabelli-Variationen. Opus 111, OPS 42-9106 Schubert: Klaviersonaten D 894 & D 960. Opus 111, OPS 30-148 Chopin: Klaviersonate Nr. 2 op. 35, 12 Etüden op. 25. Opus 111, OPS 30-83 Chopin: 24 Préludes op. 28. Opus 111, OPS 30-9006 Brahms: Balladen op. 10, Sonate op. 5. Opus 111, OPS 30-103 Klaviersonaten von Prokofjew, Rachmaninow und Skriabin. Opus 111, OPS 40-9104 |
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